Der tiefe Sinn

Die vorigen Generationen redeten von fünf Sinnen, manche vom speziellen sechsten Sinn als Zeichen sensorischer Wachheit. Nein, es sind sieben Sinne, die uns Leib und Seele zusammenhalten:

  1. Das Tastsinnessystem, auch taktil-kinästhetisches Wahrnehmung genannt, vereint die Oberflächensensibilität der Haut mit der  
  2. Tiefensensibilität, der Propriozeption, deren Rezeptoren in der Tiefe der Skelettmuskulatur liegen.
  3. Das vestibuläre Sinnessystem reguliert die Balance, das Gleichgewicht und ist eng mit der Propriozeption verknüpft, um ständig unsere Position zu bestimmen.
  4. Das auditive Sinnessystem gehört zu den früh im Uterus gereiften Wahrnehmungen, sodass Säuglinge bereits mit einem differenzierten Hörvermögen als lauschende Wesen geboren werden.
  5. Das visuelle System entwickelt das scharfe Sehen in den ersten Monaten nach der Geburt unter Zufuhr von „Nahrung für die Sehfunktion“, wie es Piaget ausdrückte.
  6. Das olfaktorische System, der Geruchssinn, ist mit der Geburt hochaktiv, um die Nahrungsquelle zu schnuppern, eine Überlebensfunktion.
  7. Das gustatorische Sinnessystem reagiert in der Kindheit intensiver auf Geschmacksnuancen, im zunehmenden Lebensalter „stumpft“ es ab.

Dann wäre da noch die Schmerzwahrnehmung, die Nozizeption, deren Reizleitung und -verarbeitung auf eigenen Bahnen den Körper durchzieht.

Aber nun möchte ich mit der Auflistung aufhören und zum Tastsinnessystem zurückkehren. Seine Entstehung hängt mit der Menschwerdung zusammen. Alle Sinnesfunktionen gedeihen in der Tiefe des Mutterleibes, verborgen in einer Höhle, abgeschieden von der Außenwelt. Das Ungeborene ertastet mit Hilfe der Oberflächensensibilität die zottige Gebärmutterwand, befühlt sein Gesicht, steckt die Finger in den Mund, erspürt mit seinen Händen den eigenen Körper, stößt mit seinen Füßen unzählige Male an eine Begrenzung.

Dabei nimmt der Fötus Druck und Widerstand wahr, Stimuli, die wiederum die Ausbildung seiner Muskulatur fördern. In der Schwerelosigkeit des Fruchtwassers kann er sich hervorragend bewegen, Purzelbäume schlagen, Kopfstände wagen, Pirouetten drehen. Sein vestibuläres System verknüpft sich mit den Mechanorezeptoren in Muskeln und an Gelenken. Mit der imposanten Choreographie der vorgeburtlichen Bewegungen entsteht eine sensorische Landkarte im Gehirn – das Körperschema, die jede Position registriert und uns unbewusst hilft, Bewegungspläne zu entwerfen. Wir bewegen uns zeitlebens auf der Grundlage dieses sensomotorischen Gedächtnisses.

Die Tiefensensibilität ermöglicht das Zusammenwirken der Muskeln zu zielgerichteten Bewegungen. Sie wird auch „Muskelsinn“ genannt, das ist jedoch eine unvollständige Bezeichnung, denn jede taktile, passive Berührung oder haptische, aktive Stimuli nehmen Oberflächensensibilität und Tiefensensibilität gemeinsam wahr. Im medizinisch-therapeutischen Sprachgebrauch sprechen wir zusammengefasst von taktil-kinästhetischer Wahrnehmung. Im Folgenden werde ich überwiegend den Begriff „Propriozeption“ gebrauchen. Diese Bezeichnung beinhaltet komplexe Empfindungen, wobei es immer um die Eigenwahrnehmung, Interozeption, des Körpers geht.

Wie liege, sitze und stehe ich? Wie bewege ich mich (Kinästhesie)? Welche Muskelspannung, Kraft und Zielgenauigkeit benötige ich für meine Tätigkeiten (Kraftsinn)? In welcher Lage und Stellung befinden sich meine Gliedmaßen zueinander (Positionssinn)? Im therapeutischen Sprachgebrauch sprechen wir vereinfacht vom „Körperschema“ und meinen damit die Beziehung der Körperbereiche zueinander. Wenn ein siebenjähriges Kind immer noch einen Kopffüßler malt, denken wir an eine dysfunktionale Wahrnehmung der Propriozeption, kurz „Körperschemastörung“.

Zum Glück verläuft der fein abgestimmten Koordinationsprozess von Haltung und Bewegung völlig unbewusst, sonst wäre unser Gehirn ständig mit Korrekturen überlastet. Sensomotorische Anpassungen erfolgen auf der Grundlage propriozeptiver Wahrnehmung. Dieser tiefliegende Sinn ist fortwährend aktiv, tagsüber und auch nachts, sonst würden wir stolpern oder aus dem Bett fallen. Ein weitverzweigtes neuronales Netzwerk sorgt für Sicherheit und Orientierung.

Geschätzte 900 Millionen Mechanorezeptoren befinden sich in Unterhaut, Muskeln, Faszien, Sehnen und in der Nähe von Gelenken, im periartikulären Gewebe. Die vier Arten der Mechanorezeptoren sind auf verschiedene Wahrnehmungen spezialisiert, die in ihrer Summe die Tiefensensibilität ergeben. Ihre Namen beziehen sich unpolitisch auf ihre Entdecker: Merkel-Zellen, Ruffini-Kolben, Meissner-Zellkomplexe und Vater-Pacini-Körperchen (Schmidt, Schaible 2001, S. 232-233).

Mit ihren spezifischen Modalitäten nehmen sie Druck, Widerstand, Schwere, Zug und Vibration wahr und anhand dieser mechanischen Impulse interpretiert das Zentralnervensystem Bewegung, Richtung und Position all unserer Körperteile. Die Tiefensensibilität ist demnach kein einheitliches, sondern ein hoch koordinierendes System verschiedenster neuronaler Stimuli.

Welche Bedeutung hat propriozeptive Wahrnehmung für die therapeutische Arbeit?

Ich zitiere den Haptik-Forscher Martin Grunwald 2017, S. 92: „Dabei hätte längst auffallen können, dass Sprachentwicklungsstörungen regelhaft mit Störungen der taktilen und haptischen Wahrnehmung korrespondieren. Denn viele Studien belegen, dass Kinder im Vorschulalter große Schwierigkeiten haben, Druck, Vibrations- und Bewegungsreize richtig zu verarbeiten.“

„Das Gehirn muss …die sich permanent verändernde räumliche Struktur des Körpers neuronal verwalten, …das Körperschema ständig auf den neuesten Stand der körperlichen Gesamtentwicklung bringen. Ohne diesen Anpassungsprozess würde ein dreijähriges Kind den eigenen Körper immer noch als Säuglingskörper erleben, womit sein motorischer Aktionsradius dem eines Säuglings entspräche. Ein dreijähriges Kind mit dem Körperschema eines Säuglings würde nicht nur nicht laufen, sondern auch nicht sprechen können (Grunwald 2017, S. 93).

Der Forscher widmet den fötalen Selbstberührungen des Gesichtes ein besonderes Kapitel (Grunwald 2017, S. 34-37). Neugeborene kennen ihr Gesicht anhand propriozeptiver Wahrnehmungen, weil sie es unzählige Male im Uterus betastet haben. Alle orofazialen Muskeln haben sie mit ihren Fingern stimuliert. Spontan strecken junge Säuglinge ihre Hände nach dem Gesicht der Eltern aus. Ein Wiedererkennen von einem „Relief“ mit Höhlen, dass sie bereits im sensomotorischen Gedächtnis gespeichert haben?

Bereits Neugeborene versuchen Lippenbewegungen nachzuahmen. Manchmal gelingt ihnen das Herausstrecken der Zunge. Unentwegt schauen sie in das Gesicht der Eltern. Sie stecken ihre Finger in den Mund der Erwachsenen, und die erwidern dies mit liebevollem „Knabbern“ an Fingern und Zehen des Babys. Das Interesse des Säuglings an Lippen, Zunge und Mundraum basiert auf seinen frühen haptischen Erfahrungen. Die ersten beiden Lebensjahre sind geprägt von der oralen Exploration. Kindern mit Entwicklungsverzögerungen, genetischen Syndromen und extrem Frühgeborenen fehlt ein großer Teil dieser frühen Sinneserfahrungen mit Händen, Mund und Füßen. Ihr Tastsinnessystem ist u. U. unterinformiert, was Körperschemastörungen begünstigen kann.

Infolge des dysfunktionalen Körperschemas bilden sich Koordinationsstörungen aus. Etliche dieser Kinder agieren dyspraktisch. Sie scheinen bereits bekannte Handlungen immer wieder zu „vergessen“, wenn ihr Gehirn die propriozeptive Wahrnehmung für die Position ihrer Körperteile versagt. Ein Beispiel: ein Fünfjähriger mit Muskelhypotonie vergisst während des Essens den Löffel zum Mund zu führen, obwohl diese alltägliche Handlung hunderte Male mit ihm eingeübt wurde.

Dyspraktische Menschen spüren nicht, wieviel Druck sie für das Greifen und Halten von Objekten aufbringen müssen. Ihr Kraftsinn als Teil der Propriozeption empfindet Druck nur schwach. Einem Mädchen mit Down Syndrom fällt oft das begehrte Spielzeug aus der Hand, sie spürt nicht, wie sie es festhalten kann, um zu spielen.

Wie sieht es mit der mundmotorischen Koordination aus? Wieviel Zeit und Mühe verwenden Logopäd*innen, um Kindern Zungen- und Lippenbewegungen, sowie die zur Lautbildung erforderliche Dosierung des Luftstroms beizubringen? Oft haben die oral dyspraktischen Kinder zusätzlich Probleme mit der aufrechten Kopf- und Körperhaltung. Der gesamten Körper kann von Muskelhypotonie betroffen sein, einschließlich des orofazialen Bereichs.

Propriozeptive Wahrnehmung – ein basaler Baustein in der Therapie

In der Therapie können wir die Modalitäten der propriozeptiven Wahrnehmung nutzen: Druck und Vibration auf die orofazialen Muskeln anwenden, sowie es im Castillo Morales®-Konzept empfohlen wird.

Im natürlichen Körperkontakt zwischen Eltern und Kind kommen zahlreiche Stimulationen der Gesichtsmuskulatur vor: Eltern nehmen den Kopf ihres Kindes zwischen ihre beiden Hände, heben und halten ihn mit Druck auf die Wangen. Sie verändern den Druck auf die Wangen zwischen „eine Schnute machen und Breitmaulfrosch“. Beim Böckchen-Spiel stoßen Eltern mit ihrer Stirn gegen die Stirn ihres Kleinkindes mit Reibung und Widerstand. Diese neckende Aufforderung zum Standhalten kräftigt die Nackenmuskulatur und fördert die posturale Kontrolle des Kopfes.

Die Tast- und Tiefensensibilität bildet die Basis der Artikulation. Der Mundraum wird bereits vom Ungeborenen ausgiebig erforscht und ist im pränatalen sensorischen Gedächtnis repräsentiert. Lustige Übungen aus der Schatzkiste des Theraplay sind Lippenspiele, Grimassen schneiden, Naschraten. In der Therapie initiieren wir unvergessliche Eindrücke für das sensorische Gedächtnis: Das Essen ohne Hände mit dem Mund aufnehmen, Schlecken und Lecken, Pusten und Blubbern, eine Spaghetti als „Schlange“ in den Mund ziehen, ein verstecktes Weingummi in den Backentaschen als Räuberjagd in der (Mund-)höhle gestalten. Kernobst im Mund sortieren ist anspruchsvoll, z. B. einen Kirschkern mit der Zunge vom Fruchtfleisch lösen.

Wir dürfen resümieren, dass die zum Spracherwerb erforderliche propriozeptive Wahrnehmung lückenhaft ist, wenn die orale Exploration eines Kindes durch Krankheit oder Erziehung verhindert wird und ausbleibt. Hier ist die Mitarbeit der Eltern gefragt, ihre Beratung und Schulung, denn der Mund ist nun mal die bessere „Hand“ in der Säuglingszeit. Mit den Händen essen dürfen ist nicht nur für dyspraktische Kinder eine Befreiung vom Besteckzwang. Die meisten von uns haben in unbeobachteten Momenten mit den Händen im Brei gematscht. In der Familie kann man an einem bestimmten Wochentag „das Räuberessen“ einführen, wobei alle auf dem Boden sitzen und die Nahrungsmittel ohne Besteck zu sich nehmen – ein sinnliches Vergnügen.

Sinneswahrnehmungen liegen jeder Bewegung, Haltung und Handlung zugrunde. Grunwald nimmt an, dass jeder Wahrnehmungsprozess durch die neuronale Repräsentation des eigenen Körpers, also durch das Körperschema, beeinflusst wird (Grunwald 20217, S. 194). Rückkoppelnd können exterozeptive Wahrnehmungen – wie visuelle und auditive – das Körperschema beeinflussen. Körperschemastörungen bezeichnet Grunwald als Supergau (Grunwald 2017, S.188). Deutlicher, ja krasser, kann man es nicht ausdrücken. In keinem Wachzustand, bei fehlender Vigilanz oder im Schlaf sind wir sinn-los. So lange wir fühlen können, nehmen wir unbewusst wahr, was in uns und um uns herum geschieht. Dabei spielt die Propriozeption eine entscheidende Rolle, sonst würden wir nicht nur die Haltung, sondern auch den Halt verlieren. Die Tiefensensibilität untermauert jede Handlung mit einem tiefen Sinn.

Literatur

  • Castillo Morales, R. (1998). Die Orofaziale Regulationstherapie. Pflaum
  • Grunwald, M. (2027). Homo hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Droemer
  • Schmidt, Schaible (2001). Neuro- und Sinnesphysiologie. Springer
  • Seiler, S. (2017). Nicht verzagen trotz Muskelhypotonie. Perspektiven bei Entwicklungsverzögerungen. Springer

Erschienen in: Schwierige Kinder Journal Nr. 84 2/2021, Hrsg. Theraplay Press Oftersheim