Früh erkennen und effektiv behandeln: Muskelhypotonie bei Kindern

Hüpfen, balancieren, einen Purzelbaum machen, klettern, malen, mit der Schere etwas ausschneiden – all diese Betätigungen fallen Kindern mit Muskelhypotonie schwer. Woran man die betroffenen Kinder erkennen und durch gezielte Umweltgestaltung unterstützen kann, erfahren Sie hier.

Muskelhypotonie ist viel mehr als ein Symptom, selbst wenn sie im medizinischen Sinn nicht als eigenständige Krankheit gewertet wird. In der Kinderneurologie ist sie sozusagen ein „Chamäleon“ (Enders 2003, S. 516). Im Kontext von Muskelhypotonie gibt es Funktionseinschränkungen, die in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) berücksichtigt werden. Muskelhypotonie birgt einen Symptomenkomplex, der sich ohne rechtzeitige Behandlung auf die sensomotorische Entwicklung von Kindern auswirken kann. Körperwahrnehmung, Koordinationsfähigkeit, Gleichgewicht und Zielbewegungen können beeinträchtigt sein. Im frühen und weiteren Kindesalter bilden sich Kompensationsstrategien aus, die sich in vermeidendem Verhalten, im Schulalter auch in Ausreden oder Ablenkungen von den sensomotorischen Problemen äußern.

Antrieb: vermindert oder gesteigert

Muskelhypotonie wirkt sich immer auf den psychomotorischen Antrieb aus. Antriebsminderung kommt häufig vor (Abb. 1). Ohne therapeutische Hilfe begünstigt sie Verhaltensstörungen im Schulalter. Die motorische Ausdauer sowie die Lern- und Leistungsbereitschaft können betroffen sein. Das einst als pflegeleicht empfundene Baby mutiert allmählich zum Problemkind. Wenn ein Mensch mit früh erworbenen Vermeidungsstrategien auf Leistungsanforderungen stößt, so ist der Boden für psychische Probleme gelegt.
Ein anderer Teil der von Muskelhypotonie betroffenen Kinder kompensiert die fehlende posturale Kontrolle mit Tempo (Abb. 2). Dieser Typus fällt im Kindergarten- und Schulalter eher auf, da er durch sein Verhalten aneckt. Der psychomotorische Antrieb ist deutlich gesteigert, die motorische Unruhe offensichtlich. Die fehlende Balance wird durch schnelle Bewegungen überspielt. Hüpfen auf einem Bein ist nicht möglich, jedoch Skateboard fahren. Hyperkinetisches Bewegungsverhalten kann auf verminderte posturale Kontrolle hindeuten und aus neurophysiologischer Sicht unter Umständen muskulärer Hypotonie zugeordnet werden.
Liegt eine Muskelhypotonie zugrunde, zeigen sich sowohl bei antriebsgeminderten als auch bei antriebsgesteigerten Kindern spezifische Auffälligkeiten. In der neurophysiologischen Entwicklung und im kindgemäßen Bewegungsrepertoire fehlen die ausreichende posturale Kontrolle, Balance, Koordination, Kraft und Ausdauer.

Abb. 1 Phänotyp A: Antriebsgeminderte Kinder vermeiden Bewegung. Es fehlt ihnen an posturaler Kontrolle, Balance, Koordination, Kraft und Ausdauer.
Abb. 2 Phänotyp B: Viele muskulär hypotone Kinder können sich zwar schnell bewegen, jedoch nicht langsam. Sie turnen und toben gerne.

Sitzen, stehen, balancieren

Antriebsverminderten sowie hyperkinetischen Kindern mit Muskelhypotonie fehlt die posturale Kontrolle zur Körperaufrichtung besonders beim Sitzen. Sie sitzen mit zu viel Hüftstreckung, richten die Wirbelsäule ungenügend auf, ihr Rücken ist kyphotisch, der Kopf wird überstreckt oder abgestützt. Kompensatorisch wippen sie beim Sitzen, um sich zu tonisieren. Dabei rutschen sie an die Stuhlkante, um ihre Sitzbeinhöcker zu stimulieren.
Im Stehen überstrecken Kinder mit Muskelhypotonie die Knie, ihre Gelenke sind hypermobil. Das Gehen wirkt steifbeinig ohne Abrollen der Füße. Alle Bewegungen sehen weniger fließend aus, sondern erfolgen ruckartig.
Antriebsarme und hyperkinetische Kinder mit Muskelhypotonie haben Probleme, die Balance zu halten. Sie können nicht

  • auf einem Bein stehen, nicht balancieren,
  • sich nicht seitwärts und rückwärts bewegen,
  • nicht in Hockstellung etwas vom Boden aufheben,
  • nicht im Halbkniestand oder Hockstellung verweilen.
  • Sie haben koordinative Schwierigkeiten beim Erlernen des Schwimmens und
  • halten ihren Kopf nicht lange über Wasser.
  • Viele lernen Fahrradfahren, beim Abbiegen können sie jedoch nicht die Hand vom Lenker lösen.

Typische Kompensationsstrategien

Einige der häufigsten Kompensationsstrategien, um die sensomotorischen Probleme zu retuschieren, sind folgende:

  • Redefluss mit mangelnder fokussierter Aufmerksamkeit
  • Reizoffenheit und Verträumtheit bis hin zum abgelenkt sein
  • zu viel Druck bei feinmotorischer Betätigung, vor allem beim Schreiben
  • zu viel Körperschwung mit Zielungenauigkeit, zum Beispiel beim Ballspiel
  • Waghalsigkeit trotz ungenügender Balance oder
  • ängstliches und motorisch gehemmtes Verhalten

Meist können Kinder mit Muskelhypotonie ihre motorischen Defizite in einer Gruppe oder im Sportunterricht nicht ausreichend kompensieren. Sie fühlen sich ausgegrenzt, sozio-emotionale Probleme kommen hinzu. Wenn das Grundproblem dieser Kinder – ihre motorische Instabilität – nicht früh erkannt wird, fällt spätestens im Schulalter das Verhalten auf. Der oberflächliche Blick auf die im Kontext von Muskelhypotonie vorkommenden Verhaltensstörungen verleitet manchmal selbst Fachleute zur falschen Interpretation: Hat der antriebsarme, vermeidende Phänotyp etwas mit Autismus zu tun? Leidet der motorisch impulsive, unruhige Typ an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)?

Körperwahrnehmung eingeschränkt

Für Ergotherapeut:innen drängt sich die Frage auf: Wie wirkt sich der niedrige Muskeltonus auf die sensorische Integration dieser Kinder aus? Nicht die Oberflächensensibilität, sondern die Tiefensensibilität ist betroffen, die Propriozeption, mit Folgen für das Körperschema. Ihre Mechanorezeptoren nehmen Druck, Widerstand, Schwere, Zug und Vibration bei verändertem Muskeltonus inadäquat wahr. In der Therapie kennen wir Kinder mit Muskelhypotonie, die extrem schmerzempfindlich sind und deren Haut blaue Flecken aufweist. Andere hingegen nehmen Druck und Widerstand nur schwach wahr, sie bevorzugen und suchen solche Stimuli.

Die ergotherapeutische Diagnostik gibt uns Hinweise zur Entwicklung des Körperschemas. Kinder mit Muskelhypotonie lassen das Fußstoßen und Fußgreifen in der Säuglingszeit meist aus. Damit fehlen ihnen propriozeptive Impulse zur Eigenwahrnehmung ihres Körpers. Der neuronale Abdruck über die Lage und Position der Körperbereiche ist weniger ausgeprägt. Die posturale Kontrolle ist ohne ausreichende Fußbelastung und Fußwahrnehmung im Liegen, Sitzen oder Stehen und bei Positionswechseln unsicher. Im weiteren Verlauf der Entwicklung können Kinder mit Muskelhypotonie bei Betätigungen nicht prompt postural reagieren – mit Auswirkung auf den Krafteinsatz und die Zielgenauigkeit. Die Propriozeption ist kein einheitliches, sondern ein hoch koordinierendes System verschiedenster neuronaler Stimuli. Das Körperschema ist Ausdruck dieser komplexen neuronalen Organisation. Es muss sich ständig an verschiedene Haltungen, Bewegungen und Handlungen anpassen. Das Körperschema entwickelt sich fortwährend – und weniger, wenn der psychomotorische Antrieb und die Exploration bei Säuglingen und Kindern mit Muskelhypotonie nachhaltig eingeschränkt sind.

Dadurch fallen Kinder mit Muskelhypotonie im Vorschul- und Schulalter auf

Kinder mit Muskelhypotonie empfinden ihre Defizite. Sie mögen sich nicht mit Gleichaltrigen messen.

  • Beim Hüpfen fehlt die Sprungkraft, vor allem beim Schlusssprung aus dem Stand. Das Kind will Anlauf nehmen. Das Hüpfen ist dyskoordiniert und dysrhythmisch ohne Ausdauer. Manche Kinder lenken ab mit Akrobatik.
  • Hampelmann und Seilspringen sind schwer erlernbar wegen der komplexen Koordination.
  • Balancieren vorwärts erfolgt schnell ohne Seiltänzerschritt, zum rückwärts und seitwärts balancieren fehlt die posturale Kontrolle.
  • Der Einbeinstand ohne Ausgleichsbewegungen gelingt nicht.
  • Aufwärts zu klettern wagen einige Kinder, zum abwärts Klettern reichen Muskelspannung und Tiefensensibilität nicht aus. Das Kind schaut auf seine Füße, anstatt zu spüren.
  • Für die Rolle vorwärts fehlen Kopf- und Rumpfbeugung. Beim Purzelbaum fällt das Kind mit geradem Rücken um.
  • Im Umgang mit Bällen fehlt es ihnen an Koordination und Zielgenauigkeit.
  • Gangarten von Tieren (Entenwatscheln, Froschhüpfen, Hasensprung…) können sie nicht nachahmen, weil ihre Hockstellung instabil ist.

Diese posturalen Probleme von Kindern mit Muskelhypotonie können sich auch auf feinmotorische Betätigungen wie malen, schneiden, fädeln oder basteln auswirken.

  • Die Präferenz einer Hand, das heißtRechts- oder Linkshändigkeit, lässt auf sich warten. Wenn ein Arm ermüdet, wechselt das Kind die Hand. Diese unklare Präferenz irritiert unter Umständen Fachleute. Sie ist meist muskulär bedingt, selten genetisch determiniert. 
  • Wenn das Kind in der Frühentwicklung Rotation vermieden hat, kreuzt es die Mittellinie des Körpers nicht.
  • Für die Grafomotorik fehlen Metrie, Koordination und Ausdauer. Die Schreibschrift kann bisweilen unleserlich sein. Die Armkraft mit ruhiger Stiftführung ist unzureichend. Schreiben im Sitzen fällt Kindern mit Muskelhypotonie besonders schwer.

Bei komplexen Anforderungen an die posturale Kontrolle und Koordination fehlt Kindern mit Muskelhypotonie Sprungkraft, Balance, Diadochokinese, Metrie und Ausdauer, sowohl großmotorisch als auch feinmotorisch.

Tipps, um den Muskeltonus anzuregen

In der Therapie, in der Schule und bei den Hausaufgaben unterstützt ein höhenverstellbares Stehpult mit einer 30 Grad-schrägen Arbeitsfläche die Körperaufrichtung. Um die Hyperextension der Kniegelenke zu verringern, sollten Kinder mit Muskelhypotonie auf einem halbfesten Polster (z.B. auf einem Ayrex-Kissen oder einer gefalteten Isomatte) stehen. Dabei sollten sie dynamisch Stand- und Spielbein immer wieder wechseln.

Im Stehen ist die Kraftübertragung auf die Hände bei jeder Betätigung wirkmächtiger als im Sitzen. Diesen Grundsatz müssen wir in der Ergotherapie beherzigen, um Kindern mit Muskelhypotonie ihre Teilhabe zu erleichtern. Entsprechend beraten wir Eltern und Lehrer.

Für Vorschul- und Schulkinder ist ein jederzeit verfügbares Trampolin empfehlenswert – nicht nur bei Muskelhypotonie. Das Trampolin regt den nach langen Sitzphasen erschlafften Muskeltonus wieder an. Da bei muskulärem Hypotonus die Sprungkraft erheblich vermindert sein kann, brauchen die betroffenen Kinder ein Trampolin mit einer schwingenden Bespannung. Diese muss mit Gummischnüren versehen sein, Stahlfedern genügen den medizinischen Anforderungen an Muskulatur und Gelenke nicht. Bereits fünf- bis zehnminütiges Hüpfen auf dem Trampolin vitalisiert den gesamten Körper. Rhythmischer, sanfter Widerstand stimuliert die Propriozeption und damit ebenso das Körperschema. Mit verbesserter Eigenwahrnehmung nehmen Vitalität und Konzentration zu. Auf dem Trampolin erwerben Kinder mit Muskelhypotonie Balance und Sprungkraft, motorische Ausdauer, Bewegungsfreude und sensorische Integration.

Beim Hüpfen auf einem schwingenden Trampolin werden Hände, Arme und Schultergürtel aktiviert mit Stoßen gegen einen nahe aufgehängten Fitnesssack oder Punchingball. Im therapeutischen Setting stärkt das Prellen eines großen Pezzi-Balles die Muskulatur vom Oberkörper und Armen, vom Trampolin herab oder am Boden. Ballprellen ist eine gute Übung, um die Handgelenke zu stabilisieren.

Spielerisches „Krafttraining“ für bewegungsunsichere Kinder kann das Balancieren mit einem großen Tennisschläger in der Hand sein, auf dem ein oder mehrere Bohnensäckchen liegen. Impulsive Kinder verlangsamen beim Transport von schweren Dingen ihr Balancieren, zugunsten von Propriozeption und posturaler Kontrolle. Noch höhere Anforderungen an die Balance und Koordination stellen Seitwärts- und Rückwärtsbalancieren.

Die wirksamste Art, das Tempo unvorsichtiger Kinder zu verlangsamen, geschieht beim Krabbeln und Transportieren. Im Knie-Händestütz können die Sandsäcke auf den Rücken des Kindes gelegt und an der „Baustelle“ langsam mit Seitneigung des Rumpfes – „wie ein Kipplaster“ abgeladen werden.  Besonders tonusregulierend beim Krabbeln wirkt das Schieben eines großen Polsters mit dem Kopf, durch einen Tunnel oder eine Schräge hinauf wird der Widerstand von cranial ausgehend durch den gesamten Rumpf verstärkt.

Eine Kletterwand stellt eine große Herausforderung für Kinder mit Umschriebenen Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen dar. Beim Klettern ist die Koordination aller Gliedmaßen gefragt. Wenn eine teure Kletterwand in der Ergotherapie fehlt, so kann man auch zwei dicke Taue quer durch den Therapieraum spannen. Auf dieser „Indianerhängebrücke“ soll das Kind seitwärts balancieren und darf „Schlange fangen“ (Bleischnüre…).

Weitere Möglichkeiten zum Klettern und Hangeln, zum kräftigenden Armeinsatz, bietet eine Strickleiter oder eine Trapezstange. Eine Hängebirne oder Tellerschaukel animieren zum Anklammern, stimulieren die ventrale Muskulatur. Nicht zuletzt kräftigt das Rollbrettfahren die obere Extremität, jedoch nicht in schneller Schussfahrt von der Rampe, sondern langsam am Boden oder mit Seilzug eine Schräge hinauf.

Wahrnehmung und Muskeltonus von Kindern mit Muskelhypotonie verbessern sich, wenn propriozeptive Modalitäten beachtet werden: Widerstandswahrnehmung durch Druck und Enge, sowie durch Schwere (Säckchen). Zug und Vibration sind ganzheitliche tiefensensorische Wahrnehmungen, die muskelkräftigend wirken.  Zur verbesserten posturalen Kontrolle sind langsame Bewegungen mit Innehalten geeignet, vor allem Haltungen entgegen der Schwerkraft: in Rückenlage, Bauchlage, beim Anklammern, beim Kullern und Krabbeln. Unter diesen Aspekten lassen sich die in jeder Ergotherapie vorhandenen SI-Geräte für antriebsarme und antriebsgesteigerte Kinder mit Muskelhypotonie gezielt verwenden.

Erschienen in: Ergotherapie & Rehabilitation 61. Jg., 2022, Nr. 5, Hrsg. DVE