Nicht immer sind es Kinder mit genetischen Syndromen, die uns Therapeut*innen vor offene Fragen stellen. Oftmals gibt es keinen spezifischen medizinischen Befund. Die Heilmittelverordnung lautet: globale Entwicklungsverzögerung unklarer Genese.
Die von Entwicklungsverzögerung betroffenen Kinder haben oftmals bereits im Säuglingsalter Physiotherapie erhalten, weil sie sich nicht drehen konnten und nicht selbstständig zum Sitzen kamen. Viele haben die Krabbelphase ausgelassen. Wenn sie im zweiten oder dritten Lebensjahr zur sensomotorisch-perzeptiven Behandlung kommen, können sie bereits gehen. Ihre verzögerte Spielentwicklung und verminderte Explorationsfreude sind auffällig.
Wie bewegt sich der kleine Klient?
Die Ergotherapeutin ist gut beraten, wenn sie das Kleinkind nicht sogleich an ein Tischchen setzt, sondern die sensomotorischen Fähigkeiten am Boden im Raum beobachtet.
Vermeidet das Kind Bewegungen, die mit Körperdrehung verbunden sind? Dann wird es Spielmaterial nicht heranholen, das seitlich oder hinter ihm liegt. Es bewegt sich nicht aus seiner Körpermitte heraus, kreuzt nicht mit den Armen die Medianachse.
Hat das Kind Mühe, seine Sitzposition zu verändern, sich zur Seite zu neigen, die Arme abzustützen, um in die Vier-Punkte-Position zu gelangen? Bleibt es antriebslos am Platz sitzen? Verliert es schnell Interesse am Spielzeug, das in Greifweite, jedoch seitlich von ihm liegt? Kann es zwar langsam und wenig fließend koordiniert krabbeln, jedoch dabei nicht einen Schubkasten öffnen, nicht mit einer Hand ein Objekt transportieren. Benötigt es beim Krabbeln alle vier Gliedmaßen, um sich abzustützen? Kann es über ein festes flaches Polster, das am Boden liegt krabbeln oder robben? Bitte verwenden Sie keinen Knautschsack, verrutschendes Material macht ein bewegungsunsicheres Kind noch unsicherer.
Die Ursache kann Muskelhypotonie sein
Wenn ein Kleinkind mit Entwicklungsverzögerung wenig Mobilität zeigt, Positionswechsel vermeidet, sich nicht neugierig, sondern eher antriebsarm verhält, haben wir es wohlmöglich mit den versteckten Symptomen von Muskelhypotonie zu tun. Das Kind hat zwar gehen gelernt, erkundet jedoch weniger sein Umfeld. Der Exploration des Umfeldes ab der zweiten Säuglingshälfte geht die Körperexploration in den ersten sechs bis acht Lebensmonaten voraus. Solange ein Baby sich noch nicht im Raum fortbewegen kann, erkundet es mit den Füßen, mit dem Mund und seinen Händen seinen Körper. Die Zehen sind von Geburt an ähnlich tastfähig wie die Finger. Sie werden gespreizt und streifen über die Unterlage oder am gegenüberliegenden Unterschenkel entlang. Mit dem Anheben der gebeugten Beine kommen die Füße ins Blickfeld. Der Säugling „übt“, einen Fuß zum Mund zu ziehen, um ihn oral zu erkunden. Mit diesem Einverleiben der Füße vervollständigt sich das Körperschema.
Bein- und Fußbeweglichkeit sind der Schlüssel zur gesamten Körperwahrnehmung, da bereits im Uterus mit dem Fußstoßen der Muskeltonus stimuliert wurde verbunden mit propriozeptiven Empfindungen. In der Säuglingszeit kommt das uteral erworbene Fußgreifen häufiger und früher vor, als das Greifen mit den Händen. Die Füße gesunder Säuglinge zeigen vielfältige Koordinationen. Wie zwei Hände bringen Babys ihre Füße in der Körpermitte zusammen. Sie stoßen beim Wickeln rhythmisch wippend gegen den Körper der Eltern. Sie stemmen ihre Füße auf der Unterlage ein und machen eine Brücke. Mit kräftigem Fußdruck schieben sie sich rückwärts, noch bevor sie robben können. Babyfüße suchen beständig nach Widerständen in ihrer Umgebung, die sie mit Druck erwidern. Das ist unverzichtbare sensorische Nahrung für das Körperschema.
Fehlende Kraft, Koordination und Wahrnehmung bei Muskelhypotonie
Wie geht es einem hypotonen Säugling oder Kleinkind mit diesen ausgelassenen Bausteinen zur Körperwahrnehmung?
- Die Gliedmaßen liegen gestreckt auf der Unterlage und können nicht gegen die Schwerkraft ins Blickfeld gehoben werden.
- Die Hände und Füße berühren sich nicht, das Fußgreifen fehlt.
- Die Zehen können nicht tasten, nicht wechseln zwischen beugen, strecken und spreizen.
- Die Temperatur unbeweglicher Füße ist niedrig. Die Füße fühlen sich kalt und leblos an. Sie erwidern keinen Druck.
- Die Kraft der Hände ist ebenso vermindert, besonders dann, wenn das Krabbeln ausgelassen wurde.
- Zum Halten von Bausteinen, Stiften oder Pinsel fehlt Festigkeit. Objekte „rutschen“ immer wieder aus der Hand.
- Dem Kind fehlt der adäquate Druck zum Schließen von Behältern, Öffnen von Knöpfen oder Ziehen an einem Faden. Es kann Schraubverschlüsse kaum betätigen.
- Das Auffädeln von Perlen oder Einstecken von kleinen Teilen ist zielungenau.
- Im gegenseitigen Körperkontakt, beim Streicheln, wirken die Hand- und Armbewegungen des Kleinkindes eher grob.
- Die Dosierung vom Druck gelingt nicht, das Kind wendet zu viel Kraft auf.
Viele Kleinkinder und ältere Kinder mit Muskelhypotonie malen ungern. Sie brauchen viel Übung und Begleitung bei feinmotorischer Betätigung. Besonders schwierig ist es für sie, ein Körperbild mit allen Gliedmaßen zu malen. Die propriozeptive neuronale Landkarte für das Körperschema ist bei hypotoner Muskulatur unterstimuliert.
Der Therapeut*in tut gut daran, einen basalen Therapieansatz zur Körperwahrnehmung erwünschten Betätigungen voranzustellen, um die ausgelassenen neurobiologischen Entwicklungsschritte des Kindes nachreifen zu lassen. Der Haptik-Forscher Grunwald, (2017, S. 92) stellt fest: Viele Studien belegen, dass Kinder im Vorschulalter große Schwierigkeiten haben, Druck, Vibrations- und Bewegungsreize richtig zu verarbeiten.“
Wir Ergotherapeut*innen arbeiten täglich an den Auswirkungen dieser propriozeptiven Störungen. Grunwald (2017, S.93) sagt zum Körperschema: „Das Gehirn muss…die sich permanent verändernde räumliche Struktur des Körpers neuronal verwalten, …das Körperschema ständig auf den neuesten Stand der körperlichen Gesamtentwicklung bringen. Ohne diesen Anpassungsprozess würde ein dreijähriges Kind den eigenen Körper immer noch als Säuglingskörper erleben, womit sein motorischer Aktionsradius dem eines Säuglings entspräche. Ein dreijähriges Kind mit dem Körperschema eines Säuglings würde nicht nur nicht laufen, sondern auch nicht sprechen können.“ Körperschemastörungen bezeichnet der Forscher als Supergau (S.188).
Spielerische Übungen für Füße und Körperschema
Vielfältige Fußwahrnehmungen mit Druck, Widerstand und möglichst rhythmischen Bewegungen sind zur Ausreifung des Körperschemas unerlässlich. In der Ergotherapie stehen uns Materialien zur Verfügung, die nicht nur für die Hände, sondern auch für die Fußwahrnehmung nützlich sind. Naturmaterialien in Fühlkisten wecken lebhaftes Interesse. Kastanien verursachen laute Geräusche, Bohnen und Linsen rieseln leise. Einiges bleibt zwischen den Zehen stecken und darf mit den Fingern oder einer Bürste herausgepult werden.
Eine Klopfbank oder große Tasten lassen sich auch mit Fußdruck betätigen. Raschelfolien am Boden animieren zum Berühren. Sandsäcken vermitteln Schwere, um die Füße deutlicher wahrzunehmen. Der Blick nach unten fördert die visuomotorische Koordination zwischen Augen und Füßen.
In jedem Lebensalter ist es gut, das Kind zur Fuß- und Körperwahrnehmung in eine unterstützende Rückenlage zu legen. Diese Haltung entspricht der frühen physiologischen Entwicklung. Wenn die Beine gegen die Schwerkraft angehoben werden, um die Füße mit den Händen zu erreichen, so kräftigt dies die gesamte ventrale Muskulatur. Die Lagerung in einer Mulde aktiviert das Kind zur natürlichen Exploration seines Körpers. Hände und Füße kommen in der Körpermitte zusammen. Das Sehen und Begreifen der Füße sind wichtige sensorische Impulse für das Körperschema. Die leicht gebeugte Kopf- und Körperhaltung mit höher gelegten Beinen ermöglicht dem Kind Sichtkontakt zu seinen Füßen. Mit dem Greifen nach Objekten an den Füßen (Knistertüte, Fädelband, Stulpen für die Zehen, Haargummis zwischen den Zehen…) fokussiert das Kind die Aufmerksamkeit auf seine bei Muskelhypotonie kaum erreichbaren Körperteile. Nicht nur die visuomotorische Koordination verbessert sich,sondern ebenso das Körperschema.
Kinder mit Muskelhypotonie brauchen eine unterstützende Lagerung, um alle Extremitäten miteinander zu koordinieren, wobei die proximalen Gelenke unterstützt sein sollen. Ein mit Stoffflicken fest gestopfter Kissenschlauch unterstützt das Anheben der Gliedmaßen. Auch ein mit einem Sandgemisch gefüllter Knautschsack (Beluga) begrenzt haltgebend den Körperraum. Die aktivierende Rückenlage ermöglicht dem Kind Blickkontakt mit der Therapeut*in. Eine körperteilorientierte Kommunikationmit Fingerverslein, die auch für die Füße passend gemacht wird, zentriert die Aufmerksamkeit des Kindes minutenlang. Mit vorsichtigen, rhythmischen Berührungsimpulsen berührt man die einzelnen Zehen nacheinander, immer medial beginnend.
Vielfältige Fußwahrnehmungen mit Druck, Widerstand und rhythmischen Bewegungen sind zur Ausreifung des Körperschemas unerlässlich. Die Greiffunktion der Füße wirkt Fehlstellungen entgegen. Die Fußbewegung des Abstreifens bleibt zeitlebens im Körperschema erhalten. Die Tastfähigkeit der Zehen erkundet durch Schuhsohlen hindurch die Beschaffenheit des Bodens, sodass wir nicht stolpern.
Mobilität im Sitzen schaffen, passives Sitzen vermeiden
Sitzen am Boden ist die ungünstigste Körperhaltung für kleine und großer Kinder mit Muskelhypotonie. Ohne propriozeptiv wirksamen Fuß-Bodenkontakt bauen sie zu wenig Muskelspannung im Rumpf auf. Das Sitzen erfolgt in schlaffer, kyphotischer Haltung. Der Kopf wird dabei überstreckt, um nicht in die Schwerkraft abzusinken. Die Reklination des Kopfes erschwert den Mundschluss, die Kommunikation, das Essen, Trinken und den Blick zum unten liegenden Spielzeug.
Kinder mit inaktiver Muskulatur verharren meist zu lange in einer ungünstigen Körperhaltung. Beim Sitzen fehlt ihnen die Balance, um ihren Körperschwerpunkt während des Sitzens zu verändern. Sie brauchen eine feste, plane Sitzfläche, in die sie nicht einsinken. Das Stizen auf einem Knautschsack ist ungeeignet, ebenso weiche Polster, die verrutschen können. Ein mindestens 10 bis 15 cm hohes Polster von der Konsistenz einer Iso-Matte unterstützt die Körperaufrichtung am Boden, sofern die Füße aufgestellt werden und die Beine nicht schlaff auseinanderfallen.
Bei Muskelhypotonie fließen die Gliedmaßen oftmals auseinander, dann ist es besser auf einem engen Bänkchen mit Seitenbegrenzung zu sitzen, als auf dem Boden. Die Holzfläche eines Stühlchens muss mit einer rutschsicheren Folie versehen sein, um das häufige Vorrutschen des Körpers auf dem glatten Untergrund zu verhindern. Das Kind mit ausgeprägter Muskelhypotonie sitzt gut aufgerichtet auf einem eng begrenzenden Würfelhocker. Am Boden ohne Unterstützung sinkt es hilflos in seine Schwerkraft und verharrt in einer Position, die keine Teilhabe ermöglicht.
Die Mobilität im Sitzen kann durch Veränderungen der Sitzfläche gefördert werden. Dies ist besonders wichtig für antriebsarme Kinder, die reglos sitzen bleiben, wenn man sie aufsetzt. Mit einem deutlich wahrnehmbaren Untergrund kann man das Sitzen für Kinder mit Muskelhypotonie abwechslungsreich gestalten. Verschiedene Materialien lassen sich fest oder auch verschiebbar in einen sehr flachen Kissenbezug stecken: Kirschkerne, Kastanien, Bohnen oder Linsen, Raps oder ein Sandgemisch. Verpackungsfolie, die knistert, macht das Sitzen zu einem fühl- und hörbaren Erlebnis.
Besonders wirksam erfolgt die Rumpfaufrichtung auf einer stimulierenden Sitzbasis. Dazu werden zwischen die seitlichen Wände eines Würfelhockers oder Bänkchens Teile einer zugeschnittenen Schwimmnudel gesteckt. Dieses Sitzen auf Rollen stimuliert die Sitzbeinhöcker des Kindes auf ideale Weise. Die beweglichen und dennoch festen Rollen initiieren die Verlagerung des Körperschwerpunktes nach vorne und hinten. Das wippende Sitzen fördert die Sitzbalance und richtet die Wirbelsäule auf. Dabei müssen die Füße unbedingt Halt am Boden haben.
Für Kinder, die zum Transport einen Rollstuhl brauchen, bedeutet es Partizipation, im Alltag und in der Therapie auf einem Kinderstuhl zu sitzen in Augenhöhe mit anderen. Würfelhocker geben von allen Seiten Halt. Beim niedrigen Sitzen spüren Kinder mit Bewegungsstörungen den Fußboden und können mit ihren Füßen selbst zu ihrer aktiven Aufrichtung beitragen. Dafür ist es wichtig, dass die Sitzhöhe ihrer Unterschenkellänge angepasst wird. Das entspricht bei Kleinkindern meist der Höhe einer Fußbank.
Günstig ist es, Fußbänke am Stuhl zu befestigen, damit nichts verrutscht. Eine selbst angefertigte Fußbank darf breiter sein, als eine gekaufte. Verbunden mit dem Stühlchen wird sie, indem man zwei Aussparungen für die vorderen Stuhlbeine hineinsägt. Eine unkonventionelle Lösung ist, einige Holzbretter oder alte Bücher unter die Füße des sitzenden Kindes zu legen. Je nach Bedarf kann die Höhe dieser Fußbank unkompliziert reduziert werden. Noch mehr Mobilität vermittelt eine niedrig aufgehängte Schaukel. Antriebsarme Kinder mit Muskelhypotonie entwickeln Bewegungsfreude, wenn sie sich mit den Füßen abstoßen und die Schaukel in Schwingung bringen können. Das Abstoßen mit den Füßen gelingt mit der richtigen Höheneinstellung. Nicht die Eltern sollen die Schaukel zum Schwingen bringen, sondern das Kind erfährt Bewegungsfreude.
Stehend nimmt die Kraft zu
In der westlichen Welt sitzen kleine und große Kinder in Kindergärten und Schulen übermäßig lange. Dabei lassen sich viele Tätigkeiten effektiver im Stehen erledigen: beispielsweise Malen mit dem Pinsel, Kneten, Schneiden, Hämmern, einen Turm bauen… Wir Erwachsenen arbeiten schließlich auch stehend in der Küche, weil wir dann mehr Kraft und Druck aufwenden können. Wer würde denn einen Kürbis im Sitzen zerschneiden? Zum Sitzbänkchen gehört ein niedriger stabiler Tisch, an dem sich das Kind in den Stand ziehen und auch stehend spielen kann. Auf diese Weise kann während des Settings Sitzen mit Stehen abgewechselt werden.
Handpräferenz hat Zeit
In der ergotherapeutischen Behandlung von Kleinkindern mit Muskelhypotonie kommt es nicht darauf an, die Präferenz einer Hand zu schulen. Die Frage der Händigkeit hat Zeit bis zum Vorschulalter. Säuglinge üben den ausgewogenen Gebrauch aller Gliedmaßen und Kleinkinder betätigen beide Hände, noch ohne Präferenz. Der gestörte Muskeltonus bei Entwicklungsverzögerungen zeigt ein asymmetrisches Bild. Meist bevorzugen Kinder mit Muskelhypotonie von Geburt an eine Körperseite – und vernachlässigen die andere. Hier gilt es wachsam zu sein und genau zu beobachten, um keine falschen Schlüsse über die Handpräferenz zu ziehen, wenn entwicklungsverzögerte Kinder überwiegend mit ihrer muskulär stärkeren Hand greifen. Natürlicherweise nutzen Kleinkinder meist jene Hand, die sich in unmittelbarer Nähe zum Greifobjekt befindet. Wichtig ist in der Frühbehandlung, die beidhändige Geschicklichkeit zu fördern. Zum Beispiel ist es beim Schneiden mit der Schere unerheblich, welche Hand die Schere führt, denn beide Hände müssen dosiert miteinander koordinieren lernen.
Beim Malen auf einem großen Blatt hält das Kind den Pinsel mal mit rechts, mal mit der linken Hand, je nachdem wie es mit seinen kurzen Armen den Bildraum ausfüllen kann oder wie die Farben erreichbar sind. Betätigung im Stehen bringt den Vorteil, dass sich das Kind auch seitwärts bewegen kann. Stehen bei Betätigung ist Sitzhaltungen vorzuziehen.
Exploration von Behältern
Bereits Säuglinge beobachten, dass Erwachsene viele Arten von Behältern verwenden, die sie öffnen und deren verborgenen Inhalt sie herausholen. Der Drang, es ihnen nachzuahmen ist bei kleinen Kindern enorm groß. Den Deckel der Creme-Flasche öffnen, Tücher aus einer Box herausziehen, das knisternde Windelpaket erkunden, Becher und Tassen an den Mund führen, solche Handlungen ahmen bereits Säuglinge nach.
Dem krabbelnden Kind eröffnen sich neue Dimensionen der Exploration des Umfeldes. Die Küche wird mit Neugier erkundet, Behälter und Schüsseln aus Schränken und Schubkästen herausgeholt. Das Kleinkind schüttelt Packungen mit Nahrungsmitteln und versucht sie zu öffnen, auch mit Hilfe des Mundes. Rascheln und Knistern sind interessante Geräusche, auch der laute Klang vom Metallgeschirr und der Mülleimerdeckel erschrecken das Kind nicht, solange es selbst damit hantiert.
Säuglingen mit Muskelhypotonie fällt das Krabbeln schwer, sie erwerben es mühsam mit monatelanger Verspätung oder lassen diesen Entwicklungsschritt ganz aus. Damit entgehen entwicklungsverzögerten Kindern vielfältige räumliche Erfahrungen. Die bodennahe Erkundung des Umfeldes verbunden mit der Entdeckung verborgener Inhalte gilt es in der Ergotherapie nachzuholen, ja, anzukurbeln. Ab dem achten Monat, im gesamten zweiten Lebensjahr und auch noch im dritten muss die Exploration von Behältern ihren Platz in der Förderung zu Hause und in der Therapie erhalten. Es kommt darauf an, dass wir dem Kind alltagsbezogene Behälter aus verschiedenen Materialien zur Verfügung stellen, die geräuschvolles Hantieren ermöglichen (Blechdosen, Pappschachteln, Papiertüten, Rohre, Glasflaschen). Ich finde auf dem Weihnachtsmarkt bunte Dosen. Gestapelt kann das Kind einen Turm damit bauchen, der krachend umfällt. Die Behälter sollten der Größe der Kinderhand angepasst sein, sodass eine Hand hält und die andere hantieren kann. Tief dürfen sie sein, jedoch der Armlänge des Kleinkindes entsprechen (Chipsdosen). Wichtig ist, dass das Kind die Behälter befüllen und ausschütten oder ausräumen kann. Kastanien, Wallnüsse und dicke Nudeln sind dazu geeignet.
Während des Ausräumens und Einfüllens in Behälter erwirbt das Kind Objektpermanenz. Ganz nebenbei erfasst es buchstäblich die Form und Größe der Dinge, wenn es Sachen in enge oder weite Öffnungen steckt. Pappröhre sind hervorragend geeignet, um vorausschauende räumliche Wahrnehmungen zu vermitteln verbunden mit Blickpunktwechseln zwischen oben und unten. Je schmaler die Öffnung eines Rohrs, Dose oder Flasche ist, desto mehr übt das Kind sich im Fokussieren seiner Hände. Diese gezielte visuomotorische Koordination wird für alle weitere Betätigungen gebraucht, z.B. um später auf Linien schreiben zu können. Da Aus- und Einräumen mit Geräuschen einhergeht, lernt das Kind den Klang der Objekte zu integrieren. Das basale Klanggedächtnis ist in hohem Maße an die haptisch-auditive Exploration gekoppelt. Auditiv-integrierte Geräusche nimmt das Gehirn nicht mehr als Störung oder Ablenkung wahrgenommen.
Sensorische Verarbeitungen während der Exploration von Behältern
Die geräuschvolle Exploration von Behältern leistet einen Beitrag zur auditiven Verarbeitung und damit zur Konzentration. Laut oder leise, kurz oder gedehnt, rhythmisch oder gleichmäßig werden deutlich unterschieden. Die auditive Explorationsphase durchzieht das gesamte Kleinkindalter.
Für die visuell-räumliche Wahrnehmung ist das Erforschen von innen und außen, oben und unten, groß oder klein, formal und figürlich, sichtbar und unsichtbar ein Meilenstein in der sensomotorischen Entwicklung. Das selbstwirksame Kind lernt Ursachen und Wirkungen kennen.
Propriozeptiv werden volle und leere Behälter erfasst, leicht und schwer, fest oder beweglich. Der Widerstand beim schwierigen Öffnen und Schließen eines Deckels, beim Drücken oder Quetschen einer Tube sind propriozeptive Modalitäten. Die glatte harte Struktur einer Dose oder die nachgebende weichere einer Packung werden sowohl propriozeptiv als auch taktil-kinästhetisch wahrgenommen. Während der Exploration von Behältern erwirbt das Kind die variable Anpassung seiner Hände, verbessert seine Greifformen, Feinmotorik und Inhandmanipulation.
Auf multimodalen sensorischen Wahrnehmungen baut die Handgeschicklichkeit auf, der die Funktionslust des Hantierens vorausgeht. Deshalb muss die Exploration von Behältern ihren festen Platz in der Therapiegestaltung für Kleinkinder haben. Da Kinder mit Muskelhypotonie meist verzögert Mobilität erwerben, so setzt auch ihre Exploration des Umfeldes verspätet und vermindert ein. Deshalb dürfen wir Ergotherapeut*innen in Zusammenarbeit mit den Eltern Kleinkindern einen monate- bis jahrelangen Zeitraum für die Exploration von Behältern gewähren.
Personale Präsenz
Zum Schluss möchte ich noch einige Sätze zur Personalität der Therapeut*in im Setting sagen. Der Erfolg der Behandlung von Kleinkindern hängt im Wesentlichen davon ab, ob die Therapeut*in sich emotional deutlich wahrnehmbar für das kleine Kind zeigt. Sie soll auf Augenhöhe mit dem Kind sitzen, das heißt, nahezu am Boden. Ich bevorzuge, auf einem Rollbrett zu sitzen, weil ich darauf nicht nur niedrig, sondern mobil sitze. Das bringt den Vorteil, Spielmaterial außerhalb des Greifraums des Kleinkindes heranzuholen, zum Beispiel einen Ball, der wegrollt.
Die gemeinsame Augenhöhe ermöglicht dem Kind, jederzeit mit der Therapeut*in Blickkontakt aufzunehmen. Kleinkinder vergewissern sich über kurzes Aufschauen, (Augenblicke), ob die Erwachsene einverstanden ist mit dem, was sie gerade tun. Der wohlwollende Gesichtsausdruck des Gegenübers sagt dem Kind: „Es ist in Ordnung, was du machst. Ich bin bei dir!“
Dieses emotionale Angleichen kommt ohne Worte aus. Therapeut*innen sind in der Therapie von Kleinkindern freundliche Beobachter, die das Material zur Verfügung stellen. Auf verbale Anleitungen sollten wir verzichten, die oft gar nicht verstanden werden. Wenn wir sprechen, so reichen kurze Sätze, Zwei- bis Mehrwortsätze auf der sprachlichen Ebene des Kindes. Erklärende Sätze lenken das Kleinkind oft vom Hantieren ab. Sprachliche Äußerungen in Form eines kurzen Kommentars dürfen die Handlung begleiten. Dauerndes Loben kann jedoch störend auf das Kind einwirken.
Dieses sprachreduzierte und beobachtende Verhalten fällt besonders Eltern und auch Therapeut*innen schwer. Das lernende Kleinkind benötigt seine ganze Aufmerksamkeit zur Betätigung. Seine Augen müssen auf seine Hände und bei der Körperexploration auf die Füße gerichtet sein, nicht auf das Gesicht des Erwachsenen. Beim Malen, Schneiden, Kneten oder Einfüllen auf Sätze zu lauschen und deren Bedeutung zu decodieren stellt für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen eine uneinnehmbare Hürde dar. Am Schluss des wortreduzierten Settings „belohnt“ ein gemeinsames Lied, ein Vers, ein Reim das Kind. Rhythmische Rituale am Anfang und Ende, sowie während der Therapie sind die Marker, die Kleinkinder emotional aufnehmen, verstehen und akzeptieren.
Literatur
- Bostelmann, A. (2019). Das Spiel der Kleinkinder. Frühes Lernen verstehen, begleiten, fördern. Berlin: Bananenblau
- Grunwald, M. (2017). Homo hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. München: Droemer
- Largo, R. H. (7. Aufg.2011): Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. München: Piper
- Seiler, C. (2010). Chancen für Kinder mit Muskelhypotonie und Entwicklungsverzögerung. Ein Ratgeber für Eltern und Therapeuten. Norderstedt: Books on Demand Seiler, C. (2020). Unterwegs auf vier Füßen. Mit Krabbeln die Entwicklung fördern. Dortmund: Verlag modernes Lernen
Erschienen in: Ergotherapie Nr. 1-2022, S. 38-41; Hrsg. Ergotherapie Austria