3. Motorische Instabilität behandeln
Motorisch unruhigen Kinder mit mangelnder Impulskontrolle fehlt häufig die muskuläre Stabilität. Sie kompensieren die Defizite mit hyperkinetischem, zum Teil waghalsigem Verhalten. Andere Kinder mit latent hypotoner Skelettmuskulatur vermeiden Bewegung. Sie sind antriebsarm, bewegen sich ungern und verlangsamt.
Motorische Instabilität führt zu Problemen in der posturalen Kontrolle. Ruhiges Sitzen, Stehbalance und ausdauernde Tätigkeiten werden im Rahmen der Ergotherapie eingeübt. Dabei ist die Behandlung am Tisch ungeeignet, um nachhaltig auf Muskulatur und Koordination einzuwirken.
Instabilität der Muskulatur bedarf einer gezielten und angeleiteten Regulation. Diese erfolgt durch ausgewählte sensorische und propriozeptive Stimuli unter neurophysiologischen Aspekten. Die unter Ergotherapeuten verbreitete Annahme, dass kleine Patienten sich die adäquaten sensorischen Stimuli selbst aussuchen, trifft selten auf Kinder mit Vermeidungsstrategien zu.
SI-Geräte, wie sie zur sensorischen Integrationstherapie in den Praxen und Einrichtungen vorhanden sind, lassen sich zur Verbesserung der Haltungskontrolle nutzen. Voraussetzung ist die Anstrengungsbereitschaft des Patienten und ein gewisses Aufgabenverständnis. Der aktive Gebrauch von schwingenden Geräten erlaubt jedoch nur eine ungenau dosierbare Beeinflussung der posturalen Kontrolle. Unerwünschte Kompensationsbewegungen sind nicht auszuschließen. Halt gebender ist ein stabiler, fester, fühlbarer Hintergrund für motorisch unruhige und instabile Kinder. Entsprechen der physiologischen Vertikalisierung favorisiere ich das Nachholen ausgelassener oder vernachlässigter Körperhaltungen und Bewegungsübergänge in der Säuglingszeit, unabhängig vom tatsächlichen Alter des Patienten.
3.1. Der primäre Therapiebaustein: Regulation der ventralen Muskulatur in Rückenlage
Die Rückenlage mit Anheben der Beine gegen die Schwerkraft ist ein wahrnehmungsintensiver und koordinationsfördernder früher Entwicklungsbaustein. Motorisch instabile Kinder fehlt das Verweilen in dieser Position, sie rollen zur Seite und können den Kopf, Arme und Beine nicht aktiv in Beugung halten. Für Kinder, die beim Gehen stolpern und sich nicht abrollen können, sowie für ehemals Frühgeborene ist die Stabilisierung der posturalen Kontrolle in Rückenlage unerlässlich.
Rückenlage mit aktiver ventraler Muskelspannung verbessert das Abrollen und beinhaltet damit eine Art Sturzprophylaxe. Fuß- und Beinübungen verhelfen ebenso zur Einstellung des Beckens beim Sitzen. Sie wirken sich auf die Steh- und Gehbalance aus. Wenn die Füße ins Blickfeld kommen, differenziert sich die gesamte Koordination. Die Hand-Augen-Fuß-Koordination wird als komplexe visuomotorische Koordinationsleistung entwicklungsbiologisch in Rückenlage gebahnt.
Die Lagerung in Rückenlage in einem engen Knautschsack (ohne Styroporfüllung) ermöglicht dem Kind Sichtkontakt zu den eigenen Füßen. Die Aufmerksamkeit soll sich wie bei einem Säugling, der seinen Körper exploriert, auf die angehobenen Gliedmaßen richten. Das Umfeld soll begrenzt sein ohne visuelle Ablenkung. Diese Rahmenbedingungen sind für kleine und vor allem für unruhige Kinder wichtig.
Stoß- und Tretbewegungen müssen vermieden werden. Rhythmisch geführte Beinbewegungen mit viel Wiederholung sind hilfreich. Verse und Reime wie „Zeigt her eure Füße“ und Zählverse für die Zehen lenken die Aufmerksamkeit auf die diese Körperbereiche.
3.1.1. Übungsbeispiele
Bei den folgenden Übungen sollen die Beine in leichter Beugung aktiv gegen die Schwerkraft angehobenen werden. Je langsamer die Bewegungen erfolgen, desto ausdauernder sind Kraft und Koordination gefordert. Fußdruck und Widerstand des Materials verbessern Propriozeption und Muskeltonus.
- Fußgreifen: mit den Füßen an engen Sprossen hinauf und hinunter klettern, dabei Säckchen abpflücken, oder eingeklemmte Kuscheltiere befreien.
- Fußfessel: ein Schuhband zwischen die Zehen wickeln und eigenhändig vom Kind entfernen lassen.
- Etwas zwischen den Füßen reiben, Knisterpapier oder eine Pralinenschachtel, daran ziehen und es mit den Füßen Festhalten.
- Fußmalen: mit Fingerfarben, Streichen, Wischen, Tupfen gegen einen Spiegel oder geflieste Wand. Falls vorhanden kann das Kind in einer Badewanne ohne Wasser liegen und die Kacheln bestreichen.
- Fußtastübungen: Rillen, Reliefs, Unebenheiten mit den Zehen ertasten; Bohnen zwischen den Zehen heraus pulen…
- Kraftübungen: Anklammern an einem horizontal gespannten Seil, Trapez, SI-Pferd, Boxsack. Die Füße an der Sprossenwand einhängen und sich abwärts hängend anklammern und hinaufziehen.
3.2. Stabilisierung der dorsalen Muskulatur in Bauchlage
Der zweite Therapieschritt beinhaltet die Stabilisierung der Bauchlage mit Aufrichtung des Oberkörpers und kräftigem Unterarmeinsatz. In dieser Position bietet man Bewegungen wie Robben, Gleiten, Schieben von Objekten am Boden an. Das Anheben eines Armes zum Greifen und Transportieren entspricht dem Einzelellenbogenstütz in der Säuglingsphase – ein wichtiges Zeichen für posturale Kontrolle.
Die Umfeldgestaltung soll zu Bewegungsübungen am Boden motivieren. Die Anstrengungsbereitschaft des Kindes, sich entgegen der Schwerkraft zu organisieren, führt zur posturalen Kontrolle. Stützen, Stemmen, Stoßen und Ziehen in Bauchlage, Robben und Krabbeln mit Unterarmeinsatz kräftigt die Schulter- und Armmuskulatur und führt meist spontan zur Verbesserung der Graphomotorik und Feinmotorik, sowie zu dosierter Muskelkraft.
SI-Geräte, die genau der Körpergröße und Armlänge des Kindes entsprechen, können als stabiler Haltungshintergrund für die Bauchlage verwendet werden. Die meisten Bauchliegebretter entsprechen jedoch nicht der Rumpflänge junger Kinder, sie sind zu groß und werden häufig zu hoch angebracht. Das Bauchliegebrett muss kürzer wie die Rumpflänge des Kindes sein, um Abstoßbewegungen mit allen Extremitäten zu ermöglichen. Die Handflächen und die Vorfüße benötigen Bodenkontakt, der Schultergürtel Bewegungsfreiheit. Runde Bauchliegebretter mit nicht federnder Vierpunktaufhängung kommen der „Armfreiheit“ entgegen. Die Ellenbogen sind in Bauchlage physiologisch leicht gebeugt und dürfen keinesfalls überstreckt sein.
Die individuell angepasste Höhe zwischen Fußboden und Bauchliegeschaukel ist entscheidend für die muskuläre Regulation. Physiologische Abstoß- und Bremsbewegungen sollen initiiert werden, die Gliedmaßen den Boden spüren zur propriozeptiven Orientierung. Der Körperschwerpunkt muss sich in Bauchlage auf dem Beckengürtel befinden, das Gewicht des Rumpfes rückverlagert sein. Damit wird der Oberkörper frei zur Aufrichtung. Die Anwendung von Hängematten für die Bauchlage ist unter neurophysiologischen Gesichtspunkten eher kontraindiziert.
Eine fest gewebte Hängematte lässt sich alternativ zusammengefaltet mit einem eingeschobenen Lagerungskeil verwenden. Damit wird die Unterstützungsfläche des Rumpfes verkleinert und Arm- und Beinfreiheit mit Bodenkontakt gewährt. Der Keil unterm Brustbein verringert die Schwerkraft des Körpers und Kopfes nach cranial und hält den Belastungspunkt im Beckenbereich.
3.3. Stabilisierung der diagonalen Muskulatur als Grundlage für Bewegungsübergänge
Die langsame Rotation um die Körperlängsachse im Liegen stabilisiert die Bewegungsübergänge, da nahezu alle Positionswechsel mit Körperdrehung verbunden sind. Stellreaktionen zwischen Schulter- und Beckengürtel ermöglichen das Kreuzen der Körpermitte, die Grundlage zur Entwicklung der Händigkeit. Übungen zur Handpräferenz sind zentrale Aufgaben für ErgotherapeutInnen.
Der Kopf darf während der Rotation nicht überstreckt werden, sondern soll leicht nach ventral gebeugt sein. Nur bei langsamer Rotation werden diagonale Muskelbereiche stabilisiert. Das Verweilen in Seitlage mit aktivem Kopfanheben zeigt proximale Stabilität an. Muskulär hypotone, instabile Kinder kullern schnell, stellen den Kopf nicht ein und kippen in seitlichen Positionen um, anstatt zu rotieren.
3.3.1. Übungsbeispiele
In der Therapie kommt es nun darauf an, die Rotation zu verlangsamen und das Innehalten zu fördern. Motivierend ist das Kullern auf einem niedrig in die Sprossenwand eingehängten, gepolsterten Schrägbrett. Draußen in freier Natur entspricht diese Übung dem Kullern auf einem Grashang.
- Kullern in einer engen, ausgepolsterten Rolltonne. Einige Tonnen von SI-Geräte-Anbietern sind zu groß, sie ermöglichen keine enge Beugung des Körpers.
- Gefangennahme und Befreiung: in eine Decke eingewickelt werden und sich befreien,
- mit Pferdebandagen oder elastischen Binden die Beine zusammengefügt bandagieren,
- beide Beine in einen großen Strumpf, Brotsack oder Plastiktüte stecken und sich ohne Hände befreien;
- Rotation mit Hilfe des Kreisels: im Therapiekreisel sitzend, die Beine beugen, die Füße am Rand aufstellen, den Kreisel seitwärts bewegen und sich ausbalancieren.
- Kriechübungen durch Enge: unter einer Turnbank hindurch
- Kriechen oder Herauswinden zwischen zwei festen Knautschsäcken erfordert Eigenwahrnehmung und Rotation,
- ebenso wie aus einer Teppichrolle oder gerollten Matte hervor kriechen
- Tunnel- oder Höhlenspiele!
- Anspruchsvoll ist es, durch die Sprossen des Kletterturms ein Seil zu fädeln und entsprechend der Seilführung den geheimnisvollen Weg der Schlange aufzuspüren: Die Aufgabe des Kindes besteht darin, sich mit dem ganzen Körper durch die engen Sprossen zu winden.
- Leichter ist es, durch die Sprossen einer horizontal platzierten Leiter auf- und abwärts zu kriechen – ein Mäusepfad mit oftmaligem Schauen aus den „Löchern“.
3.4. Therapiegrundsatz zum Erwerb der posturalen Kontrolle
Die genannten Übungen beziehen sich auf den Erwerb der posturalen Kontrolle in Ruhe und Bewegung. Dabei ist die proximale Tonusregulation entscheidend für das Handlungsgeschick der Extremitäten. Bei muskulärer Instabilität des Schultergürtels sinken die Arme bei feinmotorischen Tätigkeiten ab. Die betroffenen Kinder geben ihre Betätigung schnell auf. Die Schrift ist am Zeilenanfang noch lesbar und wird bei nachlassender Armführung gegen Ende der Zeile auseinander gezogen.
Wenn die proximale Kontrolle beim Anheben der Beine gegen die Schwerkraft fehlt, so wirkt sich dies nicht nur auf das Klettern und Treppensteigen aus, sondern ebenso auf die Sprungkraft. Seilhüpfen und Hampelmannsprung fällt motorisch instabilen Kindern außerordentlich schwer. Komplexe Körperkoordinationen, wie sie zum Beispiel bei einfachen Ballspielen erforderlich sind, gelingen nicht bei Rumpfinstabilität.
Das neurophysiologische Prinzip, das Mobilität nur bei ausreichender Stabilität effizient eingeübt werden kann, muss vorrangig in die Therapieplanung für muskulär instabile, hypotone und motorisch unruhige Kinder einfließen. Unter dem Aspekt des Haltgebens durch einen stabilen Haltungshintergrund wurden die Übungsbeispiele ausgewählt. Therapiebeispiele mit Anforderung an die Körperkoordination werden in einem Folgeartikel in der nächsten Ausgabe ergänzt.
Erschienen in: Praxis Ergotherapie, 03/2012, verlag modernes lernen