Motorische Instabilität und Muskelhypotonie erkennen und behandeln – Teil III

1. Balance und Koordination auf vier Punkten beim Krabbeln

Zwischen dem 8. bis 10. Lebensmonat entwickeln gesunde Säuglinge bemerkenswerte Bewegungsvariationen. Aus der Bauchlage oder aus dem abgestützten Seitsitz kommen sie zum Stütz auf Hände und Knie. Der Vierpunktestand (Largo) oder Knie-Händestütz (Pikler) wird als Übergangsposition zum Krabbeln mit variablen Schwerpunktverlagerungen eingeübt, bevor Säuglinge die Umgebung erobern.

Bei entwicklungsverzögerten, muskulär hypotonen und früh vertikalisierten, noch instabilen Kindern gibt es in der Vierpunkte-Position spezifische Auffälligkeiten:

1.1. Mangelnde Kopfeinstellung in der Vierpuntkte-Position

Der Kopf kann in verlängerter Achse zum Rumpf nicht stabil gehalten werden. Bei hypotoner Muskulatur wird er nach dorsal überstreckt, rekliniert, um dem Absinken entgegen zu wirken. Beim Versuch nach unten zu schauen gibt der Kopf gelegentlich ruckartig der Schwerkraft nach. Physiologisch ermöglichen Stellreaktionen in muskulärer Synergie die posturale Kontrolle der Halsmuskulatur, nicht jedoch bei instabiler Muskulatur.

Wenn die Reklination des Kopfes als Dauerhaltung eingenommen wird, beobachtet man sie auch beim Sitzen. Hypotone Schulkinder umgehen die Kopfneigung beim Schreiben oftmals durch Aufstützen des Kopfes auf eine Hand, oder Ablegen auf Unterarm und Tischplatte. Die fortdauernde Reklination überdehnt vor allem die ventrale Halsmuskulatur. Eine weitere kompensatorische Komponente ist die seitliche Neigung oder Schiefhaltung des Kopfes (Torti collis).

Diese mangelnde Kopfeinstellung gegen die Schwerkraft mag der Hauptgrund sein, dass Kinder mit Muskelhypotonie die Krabbelphase häufig auslassen. Bei absinkendem Körperschwerpunkt nach cranial verliert der Mensch die Balance. Einige hypotone Kinder erlernen die Fortbewegung auf Armen und Beinen, meist verspätet nach den ersten Gehversuchen. Sie krabbeln wenig geschmeidig, sondern hastig und ruckartig ohne ausreichende Dissoziation zwischen Becken- und Schultergürtel, wobei der Rumpf starr gehalten und die Kopfeinstellung mangelhaft ist.

1.2. Rumpfhaltung und proximale Gelenkstellung bei Muskelhypotonie

In der Vierpunkte-Position fehlt Rumpfstabilität, vor allem ventrale Muskelspannung. Die Wirbelsäule zeigt ein Hohlkreuz. Die hypotone Bauchmuskulatur kann den Rumpf nicht gegen die Schwerkraft halten, der Bauch hängt sozusagen durch.

Auch die dorsale Muskelspannung ist ungenügend. Die Schulterblätter stehen „wie Flügel“ nach außen. Wenn der mediale Rand der Scapula muskulär nicht gehalten wird, kann es zum Erscheinungsbild der Scapula alata kommen.

Die Schwerpunktverteilung im Rumpf ist inadäquat. Manche Kinder sitzen auf den Unterschenkeln, anstatt den Knie-Händestütz zu erproben. Sie halten sich bodennah mit breiter Basis, auf diese Weise die Instabilität kompensierend. Gelegentlich sehen ihre Krabbelversuche wie ein Häschensprung aus. Die mangelnde posturale Kontrolle im Vierpunktestand ohne alternierendes Krabbeln darf jedoch nicht mit der vermeintlichen Persistenz der „Symmetrisch tonischen Nackenreaktion“ junger Säuglinge verwechselt werden. Diese Interpretation ist aus neurophysiologischer Sichtweise nicht haltbar!

2. Wenn motorisch instabile Kinder nicht krabbeln

  • vermissen sie Bewegungsvariationen,
  • stabile Positionswechsel,
  • Perspektiven der Raumwahrnehmung,
  • Gelenkstabilität der Extremitäten.

Der Verlust der Krabbelphase kann sich bei Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen nachteilig auf die dorsal-ventrale Haltungskontrolle auswirken. Zwischen Schulter- und Beckengürtel stellt sich wenig Dissoziation ein bei fehlender Rotation im Rumpf. Die angeborene spielerische Erprobung des Gleichgewichts beim Erkunden von Podesten, Stufen und Möbeln fällt einseitiger, weniger variabel aus. Einige motorisch instabile Kinder verhalten sich waghalsig. Kleinen Kindern, die bei instabiler Schulter- und Armmuskulatur den Handwurzelstütz weder in der Bauchlage noch im Vierpunktestand ausüben, fehlt die Vorbereitung kraftvollen Greifens. Sie erwerben wenig Kraft mit Auswirkung auf Feinmotorik, Kraftdosierung und Grafomotorik.

Bei hypotoner Muskulatur ist vor allem die Stabilität des Rumpfes, der Kopfhaltung und der proximalen Gelenke beeinträchtigt. Das Ausbleiben der Krabbelphase bei motorischen Entwicklungsstörungen ist aus therapeutischer Sicht als Verlust anzusehen:

  • ein Verlust an Balance, Koordination und motorischer Anpassung,
  • taktil-kinästhetischer und propriozeptiver Wahrnehmung.

2.1. Wenn motorisch instabile Kinder krabbeln, zeigen sich spezifische Auffälligkeiten an den Extremitäten

Die Unterschenkel und Füße gleiten nicht über den Untergrund, sondern sind angehoben. Manchmal stehen die Zehen gebeugt und die Großzehen nach dorsal überstreckt. Es findet keine Tastwahrnehmung über Zehen und Fußrücken statt. Die Füße orientieren sich nicht an Hindernissen im Raum und stoßen sich nicht an Widerständen ab. Die Beinstellung ist ohne proximalen Halt breitbasig. Physiologisch befinden sich die Füße beim Kriechen in lockerer Plantarflexion und streifen über die Unterlage.

Hypotone Muskulatur führt in der oberen Extremität zu signifikanten Kompensationen. Die Schultergelenke sind protrahiert und innenrotiert, die Ellenbogengelenke überstreckt. Der Kontakt der Handwurzeln zur Unterlage wird oftmals vermieden, in Folge kommt es zur extremen Hyperextension in den Grundgelenken der Finger, oder zur schonenden Fausthaltung. Diese bei Muskelhypotonie kompensatorische Stellung der oberen Extremität vermindert die Erfahrung von Druck auf die distalen und proximalen Gelenke. Damit geht die Wahrnehmung für Druck- und Kraft verloren.

Die gekreuzte Koordination zwischen den Armen und Beinen ist unzureichend, das Krabbeln erscheint dysrhythmisch. Wenn die Stütz- und Abfangreaktionen der Arme bei Muskelhypotonie verzögert eintreten, fällt das instabile Kind schon mal auf das Gesicht. Die posturale Kontrolle ist für komplexe, koordinierte Bewegungen wie Krabbeln unzureichend.

3. Posturale Kontrolle und Koordination beim Krabbeln fördern

3.1. Das Bewegungstempo verlangsamen

Die erste therapeutische Intervention bezieht sich auf die Verlangsamung des Bewegungstempos zugunsten verbesserter Koordination und Wahrnehmung. Beim langsamen Kriechen wird der Belastungsdruck auf die distalen Gelenke durch Tonusregulierung im Rumpf ausgeglichen. Beim Einüben des Krabbelns müssen wir für eine gleichmäßige Belastung der Gelenke von Armen und Beinen im Wechsel von Beugung und Streckung sorgen. Mit den langsamen, gleitenden Bewegungen der Beine stellen sich die Hüftgelenke auf das Gehen ein. Sie sind in Beziehung zu den Bewegungen der Arme nicht seitengleich, sondern über Kreuz koordiniert. Das beim Krabbeln erworbene Zusammenspiel aller vier Gliedmaßen wirkt sich auf die Geschmeidigkeit des Gehens aus und ist am Gangbild wieder zu erkennen.

Das verringerte Tempo kommt der Wahrnehmung zugute. Das Spüren wird bei langsamen Bewegungen intensiver, bei schnellem Tempo eher verhindert. Vorsicht und umsichtiges Verhalten zeigen sensible Informationen über Handteller und Fußrücken, Finger, Zehen und Kniescheiben an.

3.2. Handposition modifizieren

Der ungünstigen Überstreckung der Finger wird entgegen gewirkt, wenn das Kind über ein flaches Brett krabbelt oder eine sanfte Schräge hinauf. Auf diesem Untergrund kann es seitlich das „Krabbelbrett“ umgreifen. Dabei befinden sich die Unterarme in Supination, das heißt, in einer Kraft fördernden Funktionsstellung. Die gleiche Physiologie lässt sich mit einer niedrig in die Sprossenwand oder horizontal liegenden Leiter erzielen. Das seitliche Umgreifen der Holme bewirkt Kraft und gleichmäßig verteilten Druck auf die Finger- und Armgelenke.

Bei der beschriebenen Handstellung wird gleichzeitig die Tendenz zur Innenrotation und Protrusion der Schultern vermieden. Wenn kein Krabbelbrett zur Verfügung steht, kann man der Überstreckung der Fingergelenke durch Krabbeln auf den Unterarmen vorbeugen. Von dem beliebten Kriechen über Knautschsäcke rate ich ab. Das Einsinken in verschiebbares Material ist nicht gelenkschonend.

3.3. Basis verändern

Tonusregulation wird durch Druck- und Widerstandswahrnehmung beeinflusst. Krabbelbretter bieten einen fühlbaren, sicheren und festen Hintergrund. Man kann sie mit einer Isomatte oder noppigen Folie bespannen und damit Tempo und Wahrnehmung beeinflussen. Schmale Bretter mit einer Breite zwischen 30 bis 40 Zentimetern verhindern das so genannte „Auseinanderfließen“ hypotoner Gliedmaßen. Wenn die verschmälernde Basis horizontal oder gering schräg angeboten wird, so beeinflusst dies die Kopfeinstellung in der Längsachse der Wirbelsäule. Die Rollenrutsche (siehe Bild) bietet diesen Tonus regulierenden Hintergrund. Beim Krabbeln auf der Schräge können sich die Füße in den Rillen abstoßen. Die gut greifbaren, beweglichen Rollen fördern die Handmotorik.

3.4. Körperwahrnehmung

Beim Krabbeln gewinnen Säuglinge räumliche Erfahrungen unter Möbeln und in engen Zwischenräumen. Fühlbare Widerstände werden im Krabbeltunnel möglich. Man kann das oben genannte schmale Brett in den Tunnel legen. Körperwahrnehmung geschieht beim Gleiten auf Unterschenkeln, Fußrücken, Handflächen. Körperteile lassen sich mit Bohnensäckchen beschweren. Rückwärts und abwärts Krabbeln verringert das Tempo und fördert besonders die Tast- und Tiefenwahrnehmung. Die Füße suchen Halt und erfahren distale Impulse, die sich positiv auf die gesamte Skelettmuskulatur auswirken. Krabbeln über waagerechte Leitersprossen begünstigt dieses Abstoßen mit den Füßen.

3.5. Tonus regulieren durch Widerstände beim Krabbeln

Der Muskeltonus wird vor allem durch propriozeptive Stimuli reguliert. Die Kopfeinstellung beim Krabbeln soll der Längsachse der Wirbelsäule entsprechen. Nach unten schauen und etwas mit dem Kopf voran schieben stimuliert die Halsmuskulatur. Ein angemessener, nicht zu harter Druck auf Kopf und Füße fördert die muskuläre Regulation in der Vierpunkte-Position.

Unter diesem neurophysiologischen Aspekt lassen sich die folgenden Übungen gestalten:

  • mit dem Kopf große Polster durch enge Tunnels schieben;
  • als „Packesel“ auf Nacken und Rücken Bohnensäcke transportieren;
  • über eine horizontal gestellte Leiter vor- und rückwärts krabbeln,
  • dabei unter dem Bauch einen Ball mit bewegen;
  • einen Medizinball mit dem Kopf durch einen Tunnel schieben;
  • einen „Stierkampf“ mit einem großen Gymnastikball veranstalten;
  • Knautschsäcke mit dem Kopf weg schieben;
  • unter Hindernissen oder unter einer anderen Person mit niedriger Kopfhaltung hindurch kriechen;
  • in und durch enge Behälter kriechen: Tonne, Pappkarton, Wäschekorb

4. Sensomotorische Ziele des Krabbelns

Beim Krabbeln unter therapeutischen Aspekten ist eine ausgewogene ventral-dorsale posturale Kontrolle erreichbar. Das heißt, in dieser schwierigen Position gegen die Schwerkraft verbessern sich sowohl die Stabilität, wie auch die Mobilität des gesamten Körpers. Krabbeln fördert Symmetrie ebenso wie Balance und Gleichgewichtsreaktionen.

Der Knie-Händestütz stärkt die Halsmuskulatur besonders dann, wenn das Kind unter Hindernissen mit niedriger Kopfeinstellung hindurch kriecht. Krabbeln im Bärengang muss vermieden werden wegen der eingangs beschriebenen Reklinatioshaltung bei muskulärer Instabilität. Die Kopfkontrolle wird durch Transportieren von Gegenständen mit dem Kopf intensiviert.

Sich am Boden im Raum bewegen beinhaltet vielfältige sensomotorische Wahrnehmungen:

  • Propriozeptiv und taktil werden Längen und Engen, Ecken und Kanten ganzkörperlich erkundet. Das sensorische Gedächtnis gewinnt Informationen über Raumtiefe, -breite und Entfernungen, über die Höhe von Stufen und Möbeln.
  • Die visuell-räumlichen Perspektiven verändern und vervielfältigen sich, ein wichtiger Grundstein zur visuell-räumlichen Wahrnehmung.
  • Motorisches Planen, Bewältigungsstrategien und sensomotorische Anpassungsreaktionen entwickeln Kinder beim Krabbeln um, durch und über Hindernisse. Das Krabbeln auf Podeste, Treppen und Schrägen erfordert große Anstrengung und riskante Balance.

Das konsequente und häufig wiederholte Einüben des Knie-Händeganges zum Nachholen der ausgelassenen Krabbelphase bei motorisch instabilen Kindern, ist eine unverzichtbare therapeutische Intervention. Es führt nachweislich zur verbesserten Koordination und Geschicklichkeit, zu mehr Vorsicht im Umgang mit Hindernissen und zu vermehrter Kraft, Ausdauer und Anstrengungsbereitschaft.

Literatur

  • Largo, Remo: Babyjahre
  • Pikler, Emmi: Lasst mir Zeit. Pflaum Verlag
  • Seiler, Christiane (2010): Chancen für Kinder mit Muskelhypotonie und Entwicklungsverzögerung. Books on Demand
  • Seiler, Christiane (2010): Schulreif mit Gemeinschaftssinn. Books on Demand

Erschienen in: Praxis Ergotherapie, 04/2012, verlag modernes lernen